Bevor aus dem Schneeball eine Lawine wird

Schülerinnen der Geschichte-AG halten vor 4000 Zuhörern eine Rede auf der Kundgebung für Demokratie und Menschenrechte in Mosbach

Am 26. April fand in eine Demonstration unter dem Motto „Für Demokratie und Menschenrechte“ statt. Aufgerufen hatten die Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen. Anlass war ein Geheimtreffen von AfD-Politikern mit Rechtsradikalen in Potsdam, in dem unter Verwendung des beschönigenden Begriffs „Remigration“ Deportationspläne erörtert wurden, die Menschen treffen sollen, die nicht dem völkischen Gedankengut der dort versammelten entsprechen. Die Geschichte-AG der Realschule Obrigheim wurde als Preisträger des Wettbewerbs „Aktiv für Demokratie & Toleranz der Bundezentrale für politische Bildung eingeladen, bei der Abschlusskundgebung auf dem Mosbacher Marktplatz eine Rede zu halten. 
Im Nachfolgenden der Redetext:

Der Dichter Erich Kästner sagte 1958 am 25. Jahrestag der Bücherverbrennung:
„Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat. Das ist der Schluss, den wir aus unseren Erfahrungen ziehen müssen: Drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben.“

1933 kam die NSDAP an die Macht, 2024 ist die AfD in Umfragen eine der stärksten, in manchen Bundesländern sogar die stärkste Partei.

Beide Parteien teilen die gleichen unmenschlichen Ideen:

- Rassismus

- Antisemitismus

- Antipluralismus

- und Nationalismus

Sie verbreiten ekelhafte Hetz-Propaganda gegen alles, was nicht in ihr Weltbild passt. Vinzenz Rose würde nicht in ihr Weltbild passen. Das ist sicher. Dazu später mehr.

1942 hielt die NSDAP ein geheimes Treffen am Wannsee in Berlin ab. Worüber wurde geredet? Über Deportation. Die Deportation der Juden in den Osten, in die Gettos und Vernichtungslager. Rund 80 Jahre später, nur wenige Kilometer davon entfernt, wird im November 2023 am Lehnitzsee in Potsdam wieder ein geheimes Treffen abgehalten, bei dem Mitglieder der AfD, der Werte-Union und bekannte Rechtsextreme anwesend waren. Und worüber wurde geredet? Über Deportation. Nur dass es hinter dem Begriff „Remigration“ versteckt wird

Vinzenz Rose wurde auch deportiert. 1943 von den Nazis. Er war ein Sinto, der von den Nazis „festgesetzt“ und dann nach Auschwitz deportiert wurde. Später landete er im KZ Neckarelz. Zuvor verlor er seine Bürgerrechte und wurde aus der sogenannten „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen, obwohl er deutscher Staatsbürger war. Wenn wir es richtig verstanden haben, wollen diese Rechtsradikalen, mit denen Abgeordnete der AfD gemeinsame Sache machen, wieder Menschen, die deutsche Staatsbürger sind, ihre Bürgerrechte nehmen. Nur weil sie eine andere Herkunft haben. Das ist kein Unterschied zu dem, was die Nazis getan haben, als sie Juden, aber auch Sinti und Roma in den Nürnberger Gesetzen ihre Bürgerrechte nahmen.

Vinzenz Rose hat sich nach dem Krieg dafür eingesetzt, dass die Deutschen sich mit der Diskriminierung seiner Minderheit auseinandersetzen. Als Polizisten 1973 in Heidelberg einen Sinto, einen Auschwitz-Überlebenden, erschossen, organisierte er einen Schweigemarsch. Deutsche Sinti und Roma demonstrierten öffentlich in der Hauptstraße. Sie zeigten Gesicht und kamen aus der Anonymität heraus. Deshalb ist er auch heute ein Vorbild für uns. Heute zeigen wir Gesicht. Es lohnt sich, gegen Diskriminierung zu kämpfen und sich für eine weltoffene Schule einzusetzen, in der kein Mitschüler ausgegrenzt wird, nur weil er aus einer anderen Kultur stammt. Ich finde es empörend, dass es heute immer noch Jugendliche gibt, die Angst haben, offen zu sagen, dass sie zur Minderheit der Sinti und Roma gehören. Auch an unserer Schule. Man sollte zu seiner Herkunft und Kultur stehen können, ohne Angst und Scham zu empfinden.            

Wenn Rechtsradikale noch stärker werden, wird das noch schlimmer. Deshalb stehen wir heute hier. Ohne Solidarität ist kein Zusammenleben und keine Gemeinschaft möglich. Wir gehören zusammen, auch wenn wir verschieden sind. Wir gehen gemeinsam in eine Schule, auch wenn wir uns von der Herkunft, dem Glauben und dem Geschlecht unterscheiden. Das soll auch jeder frei leben können, aber es gibt etwas, das uns alle verbindet: Wir sind Menschen! Mit gleichen Rechten. Alle!          

Wir haben letztes Jahr eine Ausstellung über Vinzenz Rose gemacht. Wir haben dafür den Alfred-Hausser-Preis der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes bekommen. Er ist benannt nach einem Gewerkschafter und Kommunisten. Die Nazis haben ihn 10 Jahre in Lager und KZs eingesperrt, weil er für Grundrechte kämpfte und nicht in ihre Ideologie passte. Wir sind auch Preisträger des Wettbewerbs „Aktiv für Demokratie & Toleranz“. Dieser Preis der Bundeszentrale für politische Bildung würdigt seit 2001 vorbildhaftes und außergewöhnliches Engagement, das einen wichtigen Beitrag zur Festigung unserer Demokratie und für ein friedliches Miteinander in unserer Gesellschaft leistet. Er zeichnet Projekte aus, die mutig gegen alle Formen von Menschenfeindlichkeit vorgehen. Weil wir auf diese Preise stolz sind und weil wir etwas für diese Auszeichnung tun wollen, deshalb stehen wir hier: 

- Für Demokratie!

- Für Menschenrechte!

Wir müssen dafür kämpfen, dass sich diese Geschichte nicht wiederholt. Wir müssen heute viel früher damit anfangen als die Menschen zur Zeit Erich Kästners. Wir müssen anfangen

- bevor aus unserer Demokratie eine Diktatur wird

- bevor Minderheiten die Menschenrechte genommen werden

- bevor aus dem Schneeball eine Lawine wird, die alles unter sich begräbt – auch uns!

Wir haben kapiert, was Kästner unter „Zu spät!“ verstanden hat:
„Drohende Diktaturen muss man bekämpfen, bevor sie die Macht übernommen haben.“